Die Energiewende braucht sozialwissenschaftliche Forschung
10.12.2024
Von Rainer Quitzow (RIFS), Lukas Hermwille (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie) und Andreas Goldthau (Uni Erfurt)
Die sozialwissenschaftliche Forschung bereichert die Energie- und Industrietransformation in Deutschland und Europa, spielt bisher aber nur eine Nebenrolle. Es ist an der Zeit, dass Forschungsprogramme die politische und soziale Dimension der Energiewende ins Zentrum rücken, schreiben Lukas Hermwille (Wuppertal-Institut) und Rainer Quitzow (RIFS Potsdam, TU Berlin).
Die ambitionierten Ziele der Energie- und Industriewende in Deutschland und Europa stoßen auf wachsenden Widerstand: Während die technische Umsetzbarkeit der Energiewende immer besser verstanden wird, mehren sich die Fragen nach den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser tiefgreifenden Transformation. Die politische Diskussion verlagert sich zunehmend von den technischen Möglichkeiten hin zu den komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen der Umsetzung.
Trotz der zunehmenden politischen Bedeutung sozialer, ökonomischer, politischer und rechtlicher Fragen, fokussiert die Forschungsförderung in Deutschland und Europa weiterhin stark auf technologische Innovation. Zwar müssen im Energie- und Klimaprogramm des Europäischen Forschungsrahmenprogramms „Horizon Europe“ alle Projekte darlegen, inwiefern sie sozial- und geisteswissenschaftliche Fragen adressieren. Dies führt jedoch dazu, dass sozialwissenschaftliche Expertise häufig als “Add-on” verstanden wird – und auf eine ergänzende Rolle begrenzt bleibt. Was fehlt, sind thematische Ausschreibungen, bei denen sozial- und geisteswissenschaftliche Forschungsfragen im Zentrum stehen.
Etwas besser sieht die Lage in der deutschen Forschungsförderung aus. Im Energieforschungsprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gibt es seit diesem Jahr den Förderschwerpunkt „Energiewende und Gesellschaft“ sowie ein neu gegründetes Forschungsnetzwerk zu diesem Thema. Bei Forschungsfragen, die über einen engen Fokus auf Energie hinausgehen und breitere Herausforderungen der Industrietransformation adressieren, wird es jedoch schnell wieder dünn: Abgesehen von Fragen zu technischer Energieeffizienz, sind Industrie-Themen aus dem Energieforschungsprogramm gestrichen worden. Ein äquivalentes Programm für sozialwissenschaftliche Forschung zur Industrietransformation und den daraus folgenden sozioökonomischen Veränderungen fehlt bisher.
Sozialwissenschaftliche Forschung ist unverzichtbar für langfristig wirksame Energie- und Klimapolitik
Ohne ein tiefes Verständnis der sozialen und politischen Auswirkungen der Transformation besteht die Gefahr, dass politische Maßnahmen schlecht konzipiert werden, auf den Widerstand der Öffentlichkeit stoßen und die angestrebten Ziele nicht erreichen. Sozialwissenschaftliche Forschung kann hier helfen: Sie untersucht beispielsweise die öffentliche Wahrnehmung des transformativen Wandels vor dem Hintergrund sich verändernder gesellschaftlicher und individueller Werte. Sie analysiert komplexe Machtdynamiken und Fragen von (Un)gerechtigkeit in Bezug auf die Verteilungswirkung von Transformation und politischen Instrumenten, Interdependenzen mit bestehenden sozialen und regionalen Ungleichheiten – und sie entwickelt Möglichkeiten zur Partizipation. Das politische Debakel rund um das Gebäudeenergiegesetz ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie relevant solche Fragen in der politischen Realität sein können.
Sozialwissenschaftliche Forschung untersucht zudem, warum Klimaschutz – national und international – nicht ambitioniert genug vorangetrieben wird und warum die Umsetzung bereits beschlossener Maßnahmen oft nicht gelingt. Diese Fragen sind fundamental für wirksame Politik. Sie lassen sich nicht auf eine Nebenrolle reduzieren. Auch der Weltklimarat, IPCC, erkennt das an. Er hat entschieden, politikwissenschaftliche und soziologische Forschung zukünftig stärker zu berücksichtigen.
Forschungsprogramme müssen sozialwissenschaftliche Fragen ins Zentrum rücken
Gerade vor dem Hintergrund eskalierender politischer Konflikte muss mehr in sozialwissenschaftliche Forschung investiert werden. Die neue EU-Kommission wird in den nächsten Monaten die Grundzüge des nächsten europäischen Forschungsrahmenprogramms erarbeiten. Dabei sollte sie die Möglichkeiten für Forschende aus sozialwissenschaftlichen Disziplinen deutlich verbessern: Thematische Ausschreibungen, die sozial- und geisteswissenschaftliche Fragen ins Zentrum stellen, sind dringend nötig. Ansonsten drohen soziale und politische Dimensionen, die für das Gelingen der Energiewende zentral sind, marginalisiert zu werden.
Die Bundesregierung sollte zudem ihre Forschungsförderung speziell auf die sozialen und politischen Aspekten des industriellen Wandels im Kontext der Energiewende ausrichten. Denn der geopolitische und geoökonomische Wettbewerb zwischen den führenden Industrienationen hat sich in den letzten Jahren stark verschärft und droht nach der Wahl von US-Präsident Trump noch weiter zu eskalieren. Deutschland und Europa könnten dabei den Anschluss verlieren. Sozialwissenschaftliche Forschung kann helfen, die industriepolitischen Herausforderungen, wirtschaftspolitische Konfliktlinien und regulatorischen Handlungsoptionen besser zu verstehen. Das ist die notwendige Wissensbasis für die Entwicklung tragfähiger politischer und gesellschaftlicher Strategien, um das produzierende Gewerbe in Deutschland hin zu einer nachhaltigen und klimafreundlichen, aber eben auch langfristig wettbewerbsfähigen Industrie zu entwickeln – und gleichzeitig den damit einhergehenden Strukturwandel in Industrieregionen sozial abzufedern.
Dazu gehört auch ein besseres Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in anderen Ländern zu fördern, auch über die Grenzen Europas hinaus. Denn Deutschland und Europa sind nicht nur bei der Energiewende immer stärker auf internationale Zusammenarbeit angewiesen. Doch oftmals scheitern solche Kooperationen, weil unterschiedliche Interessen und Weltanschauungen aufeinanderprallen. Kollaborative sozialwissenschaftliche Forschung mit internationalen Partner*innen schafft nicht nur ein besseres Verständnis für politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in anderen Ländern, wissenschaftliche Zusammenarbeit und Austausch können auch als Grundlagen für spätere politische und wirtschaftliche Kooperation dienen, zum Beispiel mit aufstrebenden Ländern des Globalen Südens wie Indien, Brasilien, Indonesien, aber auch mit China.
Wir müssen den „politischen Willen“ besser verstehen
Natürlich treiben technologischer Fortschritt und sich verändernde Kosten und Preise den transformativen Wandel. Mindestens ebenso entscheidend sind aber Institutionen, Ideen, Werte und Diskurse. Das technologisch Machbare und deren wirtschaftlich effizienter Hochlauf sind in vielen Fällen gut erforscht. „Es fehlt bloß der politische Wille, die Dinge umzusetzen“, heißt es dann oft. Genau hier kommt sozialwissenschaftliche Forschung ins Spiel: Sie ist essentiell, um zu erkennen, wo die Grenzen des politisch Machbaren verlaufen – und bestenfalls auch, wie wir sie verschieben können. Die EU-Kommission und Deutschland sind daher gut beraten, die politischen und sozialen Dimensionen in ihren Forschungsprogrammen ins Zentrum zu rücken. Nicht um ihrer selbst willen, sondern für das Gelingen der Energiewende.
Die Autoren sind Co-Initiatoren eines offenen Briefs des Forschungsnetzwerks Energiepolitik und Governance des Europäischen Konsortiums für Politikwissenschaftliche Forschung (ECPR) sowie des Sustainability Transitions Research Network (STRN) an die für die Generaldirektion Forschung und Innovation zuständige EU-Kommissarin Ekaterina Sachariewa. Insgesamt haben diesen Brief über 300 europäische Wissenschaftler*innen unterzeichnet.
Dieser Artikel erschien zuerst am 3. Dezember 2024 im Tagesspiegel Background Energie & Klima.