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Headline: Die Autorität der Daten infrage stellen

RIFS-Fellow Julika Gittner ging in den Neunzigerjahren zum Kunststudium nach London und studierte dort anschließend Architektur. Sie hat immer als Künstlerin gearbeitet. Zugleich unterrichtete sie viele Jahre lang in Cambridge an der Fakultät für Architektur. Seit April ist sie Fellow am RIFS und erklärt im Interview, woran sie derzeit arbeitet.

RIFS Fellow Julika Gittner
RIFS Fellow Julika Gittner RIFS/S. Letz

Sie sind Künstlerin und arbeiten vor allem mit Skulpturen. Was können Sie jetzt schon über das Projekt sagen, welches Sie in den nächsten Monaten hier am RIFS vorhaben?
Julika Gittner: Ich arbeite mit der Forschungsgruppe Ko-Kreation in der demokratischen Praxis zusammen, die sich derzeit mit zwei Kiezblock-Projekten beschäftigt. Ich nehme mit meinem Projekt an aktuell laufenden Beteiligungsprozessen der Gruppe teil, indem ich mit Skulpturen Daten visualisiere und diese dann beispielsweise im öffentlichen Raum oder in anderen relevanten Kontexten zeige. Die Kunstwerke sind als Kommunikationsmittel oder Gesprächsaufhänger zu verstehen, die die Wissensvermittlung im Beteiligungsprozess unterstützen können. Ich plane als Teil des Projektes mit Gruppen vor Ort Workshops zu machen, bei denen Beteiligte genauso wie ich Daten durch Objekte darstellen können.

Was möchten Sie mit Ihren Exponaten erreichen?
J. G.: Mir geht es grundsätzlich darum, die Kluft zwischen abstrakten Daten wissenschaftlicher Erkenntnis und der Normalperson auf der Straße aufzuzeigen und alternative Wege zu finden, diese zu überbrücken. Um abstrakte Daten greifbar, fassbar und begreifbar werden zu lassen, stelle ich Objekte her, die Abstraktes materialisieren. Meine Skulpturen bestehen hauptsächlich aus Alltagsmaterialien, zum Beispiel alten Matratzen, Strümpfen, Decken und Plastiktüten. Dadurch entsteht ein direkter Bezug zwischen dem Dargestellten und dem täglichen Lebensraum von Menschen.

Die Konkretisierung durch Verkörperlichung mittels alltäglicher Gegenstände ist für mich ein wichtiger Schlüssel, der ein intuitives Verständnis ermöglichen kann. Es geht mir dabei die Hierarchien und Barrieren darum zu hinterfragen, die in Beteiligungsprozessen oft zwischen Expertinnen und Experten als auch Bürgerinnen und Bürgern bestehen. Besonders die autoritäre „Expertensprache“ von Zahlen und Fakten kann eine Barriere sein, weil wichtige Informationen befremdlich oder unverständlich bleiben und oft eher unkritisch akzeptiert werden. 

Mir geht es darum, dass durch Objekte solche Informationen plötzlich auf den eigenen Körper sowie die eigene Lebenswelt bezogen werden können. Jeder und jede könnte aus einer alten Matratze ein Objekt schaffen und damit grundlegende faktische Zusammenhänge darstellen. Ich erhoffe mir, dass der direkte Bezug, der dadurch entsteht zu einem anderen, kritischeren Verständnis führt. Kurz formuliert experimentiere ich mit einer alternativen Form der Kommunikation von Daten, um Beteiligung zu ermöglichen  

Was ist gemeint mit „Daten“?

J. G.:  Daten sind für mich als Laie sehr allgemein gesagt Zahlen, wie zum Beispiel Messungen oder statistische Erhebungen, die komplexe Zusammenhänge darstellen. Oftmals werden solche Daten durch Tortenmodelle oder Säulendiagramme wiedergegeben. Wie viele Leute fahren mit dem Auto? Wie hoch ist die Luftverschmutzung? Wird das mehr oder weniger? Das sind alles Sachen, die kommuniziert werden müssen, wenn man möchte, dass die Bevölkerung Entscheidungen treffen oder zum Beispiel an der Gestaltung von Kiezblöcken mitwirken kann. Jedoch ohne auf Wissen fundiertes Verständnis fällt Entscheiden schwer. Meiner Meinung nach funktioniert Demokratie nur, wenn wir Beteiligungsprozesse so gestalten, dass dabei nicht die Haltung entsteht: die Experten berechnen das, die erheben die Daten, die wissen das, die entscheiden das, und so weiter ... 

Mir geht es also ein bisschen um Datenkritik. Die Autorität der Daten ist sehr bequem für Menschen, die demokratische Prozesse leiten. Außerdem sind qualitative und andere Aspekte sind in dieser Form der Darstellung nicht unbedingt miteingeschlossen und werden damit außen vorgelassen. Das ist etwas, was ich ein bisschen hinterfragen und anders gestalten will.

Das heißt, es dreht sich bei Ihren skulpturalen Objekten um eine Form von Wissenschaftskommunikation?

J. G.:  Genau, eine Form von kritischer Wissenschaftskommunikation. Ich möchte die Zahlen verständlicher machen, ich möchte zugleich Kritik daran üben, dass sie so eine wichtige Position innehaben. Warum gibt es diese Zahlen, wer hat sie erhoben, worum geht es bei diesen Zahlen, und warum sind sie so wichtig?

Sie sagten gerade, dass Sie Alltagsgegenstände verwenden …

J. G.:  Das meiste entsteht, indem ich Sachen auf der Straße finde und recycele. Gerade entsteht einer von den „Kiezblöcken“ – fast wie ein dreidimensionaler Stadtplan sieht das Objekt aus. Dabei geht es mir darum, dass ich von mehreren die Frage gehört habe, was denn eigentlich ein Kiezblock ist? Soll das ein Block sein? Ist er durchlässig, dieser Block? Ich arbeite mich an eine Darstellung heran, die vielleicht greifbarer machen kann, was gemeint ist.

Wie nähern Sie sich diesem Projekt an? 
J. G.:  Ich verstehe mich als eine Art „Laien-Filter“. Ich lese die Texte der Forschungsgruppe, manchmal sehe ich Schlagzeilen in der Zeitung oder jemand sagt etwas bei einer Beteiligungsveranstaltung und daraus entstehen dann Themenideen. Der Ausgangspunkt von all meinen Arbeiten ist, dass ich selbst ganz viele Sachen nicht verstehe. Ich gehe immer von der Frage aus: was bedeutet das eigentlich? Was bedeutet das, wenn die Menschen denken, ein Kiezblock ist ein Block und da kommt kein Auto rein oder raus. Wie würde das aussehen? Dann stelle ich das dar, indem ich es verkörperliche und dadurch beginne ich es selbst besser zu verstehen. Oder es wird gesagt, dass „soundso viel Prozent des Verkehrs verpufft“. Was soll das denn heißen? 

Neu an meinem Projekt am RIFS ist für mich, mit einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern direkt zusammenzuarbeiten und an öffentlichen Beteiligungsprozessen mitzuarbeiten. Das ist ganz anders, als was ich es vorher gemacht habe - und sehr spannend für mich.

Wie gehen Sie damit um, dass Kunst von vielen genauso wenig verstanden wird wie all die Zahlen und Daten der Expertinnen und Experten? 
J. G.:  Es entsteht für mich eine duale Betrachtungsweise der Objekte: Auf der einen Seite sind es so eine Art Modelle, um Sachen einfach zu verstehen oder zu visualisieren. Dabei ist es nicht so wichtig, dass es Kunstwerke sind oder wie sie als Kunst verstanden werden sollen. Auf der anderen Seite können die Objekte genauso gut in Ausstellungsräumen stehen, wo das Publikum dann darüber nachdenkt, was für formale Kriterien oder konzeptuelle Ideen dahinterstecken. Ich finde es spannend, dass die Objekte verschiedene Rollen einnehmen können und dass man unterschiedlich über sie reden und nachdenken kann.

Wo würden Sie gern am Ende dieses Jahres stehen? Was ist das große Ziel? 
J. G.:  Ich glaube, dass ich durch diese neue Situation der direkten Zusammenarbeit mit Forschenden vom RIFS, bei der ich an laufenden Beteiligungsprozess teilnehmen kann für mich neue Strategien, neue Fragestellungen und Vorgehensweisen entdecken werde. Dann hoffe ich auch, dass wir am Ende eines Workshops feststellen, dass wir es geschafft haben, ein paar Leute auf eine neue Weise einzubeziehen. Außerdem ist es mir wichtig, ein kleines Fensterchen zu öffnen für andere Praktiken als diejenigen, die im Wissenschaftsbetrieb normal sind. Da liegt der Fokus sehr auf intellektuellem, fachlich akkuratem Verständnis und es fehlen meiner Meinung nach Wege, emotionale Bezüge zu Wissen herzustellen. Das ist ein Stolperstein. Da eine andere Beziehung herzustellen wäre mir wichtig. Ich behaupte nicht, dass ich das mit meinen Skulpturen schaffe, aber sie setzen etwas in Gang – sie geben einen Denkanstoß, zeigen andere Möglichkeiten auf.

Werden Ihre Skulpturen in dem Kiezblock ausgestellt? 
J. G.:  Das ist jetzt im Moment mein Plan, dass die Objekte temporär dort im öffentlichen Raum erscheinen. Außerdem möchte ich gerne zum Beispiel Schulkinder oder andere Gruppen in einem Workshop mit einbeziehen, wo wir zusammen Darstellungen von Daten herstellen. Die könnten dann auch vor Ort gezeigt werden.